Die amerikanische Krankheit - Vier Lektionen der Freiheit aus einem US-Hospital | |
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Autor: | Timothy Snyder |
Veröffentlicht: | 14/10/2020 |
Format: | Ungekürztes Hörbuch |
ISBN-13: | 9783406762512 |
Sprecher: | Peter Bieringer |
Laufzeit: | 3 Std. und 36 Min. |
Sprache: | Deutsch |
Verlag: | C.H.Beck |
Rubrik: | Politik |
Übersetzer | Andreas Wirthensohn |
Originaltitel | Our Malady: Lessons in Liberty from a Hospital Diary |
Snyders Dezember-Odyssee
Timeline
Weil das Hörbuch thematisch und nicht chronologisch strukturiert ist, habe ich Snyders Dezember-Odyssee der Übersichtlichkeit halber mal in einer Timeline gebündelt:
Notaufnahme in München
Nach einer Rede an der Ludwig-Maximilians-Universität wird Snyder nachts mit starken Bauchschmerzen in die Notaufnahme eines Münchner Krankenhauses eingeliefert und am nächsten Morgen wieder entlassen. Die Entzündungen an Blinddarm und Leber werden übersehen.
Blinddarm-OP in New Haven
In New Haven unterzieht sich Snyder einer Blinddarmoperation und wird und nach weniger als vierundzwanzig Stunden wieder entlassen. Die Ärzte stellen Läsion der Leber fest, ordnen aber keine genauere Untersuchung an.
Notaufnahme in Florida
Während eines Urlaubs in Florida wird Snyder mit Taubheit in Händen und Füßen ins Krankenhaus eingeliefert und am nächsten Tag wieder entlassen. Die Symptome verstärken sich in den folgenden 4 Tagen so stark, dass der Urlaub abgebrochen werden muss.
Notaufnahme in New Haven
Weil er den Weg vom Parkplatz bis zur Notaufnahme nicht mehr gehen kann, muss Snyder einen Rollstuhl benutzen. Eine befreundete Ärztin begleitet ihn und versucht das Personal auf die Dringlichkeit seiner Situation aufmerksam zu machen, wird jedoch ignoriert, weil sie schwarz ist. Mittlerweile ist der Abszess in seiner Leber geplatzt und die tödliche Sepsis setzt ein. Trotzdem muss Snyder noch 17 Stunden in der Notaufnahme ausharren, bis die lebensrettende OP angesetzt wird.
Rezension
Anfang 2020 wird Snyder aus dem Krankenhaus mitten hinein in die Corona-Pandemie entlassen und erlebt, wie seine Regierung alle Warnungen und Ratschläge der Wissenschaft in den Wind schlägt und das neue Virus grassieren lässt. Dabei verspielen die USA ihre vergleichsweise vorteilhafte Position: frühzeitig von den eigenen Geheimdiensten und den erschreckenden Berichten aus Italien gewarnt, mit nur zwei Landesgrenzen, einer geringen Bevölkerungsdichte und beraten von einem der renomiertesten Immunologen weltweit. Als sich die ersten Bundesstaaten offen gegen den Präsidenten stellen und damit beginnen, eigene Maßnahmen zu koordinieren, ist im Weißen Haus die Rede von einer “Meuterei auf der Bounty”.
Vielleicht ist vor allem dieser Eindruck einer aus den Fugen geratenen Nation, der Timothy Snyder dazu bewegt hat, kein populärwissenschaftliches Buch zu verfassen, sondern ein persönliches. Nicht für interessierte Laien geschrieben, sondern für ein möglichst breites Publikum. Ein emotionaler, aber in Stil und Inhalt wohlkalkulierter Angriff auf das amerikanische Gesundheitssystem, auf das amerikanische Selbstbild und auf den 45. Präsidenten.
Freiheit und Solidarität“Das Wort «Freiheit» ist heuchlerisch, wenn es von den Menschen ausgesprochen wird, die die Verhältnisse schaffen, welche uns krank und machtlos machen.”
Snyder, Timothy. Die amerikanische Krankheit
“Das Wort «Freiheit» ist heuchlerisch, wenn es von den Menschen ausgesprochen wird, die die Verhältnisse schaffen, welche uns krank und machtlos machen.”
Snyder, Timothy. Die amerikanische Krankheit
Snyders zentrale Argumentation, auf die er immer wieder zurückkommt und mit eigenen Erfahrungen sowie aktuellen und historischen Bezügen zu veranschaulichen sucht, beginnt mit der kurzen, beinahe selbstevidenten Formel: wer krank ist, ist nicht frei. Wer krank wird, kann weder so frei handeln noch so frei denken wie zuvor. Dieser Verlust an persönlicher Freiheit betrifft jedoch nicht nur das kranke Individuum, sondern wirkt sich auch auf seine unmittelbare Umgebung aus und schränkt auch die Freiheit der Familie ein, die von Freunden, Kollegen usw. Und für Menschen, die sich in einer solchen Situation nicht auf ein halbwegs funktionierendes Gesundheitssystem verlassen können, beginnt die Unfreiheit schon vor der eigentlichen Krankheit – nämlich bei der Angst vor ihr.
Eine Gesellschaft ist folglich umso unfreier, je weniger sie ihre Mitglieder gegen Krankheit schützen kann. Legt man nun dieses Maß der Freiheit an die US-amerikanische Gesellschaft an und vergleicht das Ergebnis mit dem anderer entwickelter Gesellschaften, ergibt sich kein sehr feierliches Bild für eine Nation, die sich selbst als „land of the free“ besingt.
Ein dysfunktionales Gesundheitssystem
Denn obwohl die USA erheblich mehr Geld für die Gesundheitsversorgung ausgeben als jedes andere Land der Welt[1], fallen sie bei bei wichtigen OECD-Indikatoren immer weiter zurück und belegen oft nur noch hintere Plätze [2]. So sind OECD-weit nur in Costa Rica und Mexiko noch weniger Menschen krankenversichert als in den USA, die Kindersterblichkeit ist höher als in allen europäischen Ländern und die Lebenserwartung nimmt seit 2014 fast kontinuierlich ab.[3]
Die traurige Bestandsaufnahme ließe sich noch weiter fortsetzen[4] [5], aber der Punkt ist klar: Das Gesundheitssystem der USA ist teuer und ineffektiv.
Um zu verstehen, warum die Amerikaner sich so schwer damit tun, ihr dysfunktionales Gesundheitssystem zu reformieren, empfiehlt sich ein Blick in den Wikipedia-Artikel über “Socialized Medicine”. Diese von einer PR-Agentur populär gemachte Kampfvokabel wurde 1947 bereits Harry S. Truman um die Ohren gehauen, als er versuchte, eine solidarisch finanzierte Krankenversicherung einzuführen. Mit dem Begriff “Socialized” sollen Reformen dieser Art in die Nähe von Sozialismus bzw. Kommunismus gerückt und als unamerikanisch diskreditiert werden. Ein albernes semantisches Mätzchen, möchte man meinen, und dennoch scheint diese Phrase bis heute nichts von ihrer Wirkungsmacht eingebüßt zu haben.
“Solche Politiker sagen den Weißen, sie seien zu stolz und zu aufrichtig, um eine Krankenversicherung und öffentliche Gesundheitsversorgung zu brauchen, die, so sagen sie, nur von anderen ausgenutzt wird, die es weniger verdient haben (Schwarze, Einwanderer, Muslime).”
Snyder, Timothy. Die amerikanische Krankheit
Und deshalb spielen die Details einer Gesundheitsreform in der „amerikanischen Krankheit“ nur eine untergeordnete Rolle und sind schnell erzählt: Snyder empfiehlt eine Krankenversicherung nach mehr oder weniger deutschem Vorbild mit einem „Einheitskassen-System im Zentrum und privaten Versicherungen an den Rändern.“
Worauf es ihm vor allem ankommt, ist die Konfrontation eines pervertierten Freiheitsideals – einer Ideologie, die Freiheit und Solidarität als Widersprüche begreift und die im Kern ja nichts anderes ist als ein schlecht getarnter Sozialdarwinismus – mit der Lebenswirklichkeit der Menschen.
Die Amerikanische Krankheit – Kritik
Es mag bei einem Sachbuch paradox klingen, aber am stärksten ist “Die Amerikanische Krankheit” da, wo Snyder über eigene Erfahrungen spricht. Wenn er vom Durcheinander in der Notaufnahme erzählt und den Gesprächen, die er dort belauscht hat. Oder wie er und seine Frau in Österreich die Zeit vor und nach der Entbindung ihres Sohnes erlebt haben. Es ist die seltene Perspektive eines Amerikaners, der auf beiden Seiten des Atlantiks gelebt, gearbeitet und Kinder großgezogen hat – und dadurch einen Einblick in die Strukturen höchst unterschiedlicher Systeme gewonnen hat, wie sonst nur wenige Menschen.
Dort, wo es fachlicher zugehen sollte, hat “Die amerikanische Krankheit” allerdings einige Schwächen, wie schon Katie Hafner in der Washington Post angemerkt hat. Ein Beispiel will ich hier etwas genauer besprechen.
Wie Tacitus über die Germanen
Sine ira et studio, schrieb Tacitus in seinen Annalen und hielt sich selbst nicht daran, als er sich besonders lobend über die angebliche Sittlichkeit und Treue der Germanen ausbreitete, um seinen römischen Mitbürgern den Spiegel vorzuhalten. Das eine zu kritisieren, indem man das andere über den Klee lobt, scheint ein alter Historiker-Kniff zu sein, dessen sich auch Snyder gern bedient, wenn er die europäischen Gesundheitssysteme aufs Podest stellt. Vor allem Deutschland und Österreich kommen gut weg.
Doch selbst wenn man Snyder hier weitgehend zustimmen kann, lassen sich bestimmte Unschärfen und Irrtümer in seiner Argumentation nicht einfach übergehen. Wenn er zum Beispiel behauptet, in Deutschland nähme man sich besonders viel Zeit für die Patienten und führe lange Gespräche, während man sie in den USA aus Kostengründen rasch abfertigen wolle, dann höhre ich schon, wie das medizinische Personal in diesem Land in lautes Gelächter ausbricht, einfach weil das eine viel zu pauschale Aussage ist und auch statistisch nicht wirklich haltbar [6]. Nun glaube ich Snyder ohne Weiteres, dass er das eben so erlebt hat, aber anekdotische Evidenz ist keine empirische Evidenz.
An einer anderen Stelle, als um ein Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung geht, schreibt er:
“In den Verfassungen der meisten Nationen ist ein Recht auf Gesundheitsversorgung verankert. Auf dieser Liste stehen Japan und Deutschland, deren neue Verfassungen die Vereinigten Staaten beeinflusst haben, nachdem sie diese Länder im Zweiten Weltkrieg besiegt hatten.”
Das ist, wenn nicht völlig falsch, dann doch eine stark verzerrte Darstellung, denn es heißt im deutschen Grundgesetz zwar “Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit” und ja, natürlich ist das eine Antwort auf die Jahre 1933 bis 1945, allerdings konstituiert Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 noch kein Recht auf Gesundheitsversorgung, sondern soll in erster Linie die Bürger vor Übergriffen des Staates schützen.[7][8] (Auch in der japanischen Verfassung wird ein solches Recht nicht explizit genannt und leitet sich auch nicht zwangsläufig aus ihr ab.)
Die Wahrheit ist: Auch in Deutschland sind nicht alle Menschen krankenversichert, können sich auf kein entsprechendes Recht berufen und wären ohne die Hilfe gemeinnütziger Vereine wie “Praxis ohne Grenzen” oder “Ärzte der Welt” in einer grauenhaften Situation. Und selbst wenn es ein solches Recht gäbe, bliebe noch die Frage, wie es genau formuliert wurde, wie es umgesetzt wird und welche Ausnahmen es gestattet. Bekanntlich haben die USA auch die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen ratifiziert, die das Recht auf Leben garantiert und vollstrecken in vielen Bundesstaaten noch immer die Todesstrafe.
Und außerdem, das sollte Snyder als Historiker eigentlich wissen, gehen die Gesundheitssysteme in Deutschland und anderen europäischen Ländern in erster Linie auf die Sozialgesetzgebung unter Bismarck bzw. auf den wachsenden Einfluss der Sozialdemokratie im 19 Jahrhundert zurück. Das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat ist auf dem “Kontinent” ist schon traditionell ein anderes als im angelsächsischen Sprachraum.
Solche Stellen, an denen Prägnanz und Stimmigkeit der Vorrang vor Korrektheit gegeben wird, sind nicht nur prinzipiell ein Makel, sondern öfnfen auch völlig unnötigerweise die Flanken für Angriffe aus jener ideologischen Ecke, der Snyder ja gerade mit Tatsachen und Fakten beikommen will.
Der Sprecher Peter Bieringer
Peter Bieringer liefert hier eine ganz ausgezeichnete Lesung ab, an der ich nichts zu beanstanden habe.
Über den Autor:
Timothy Snyder ist Professor für Geschichte an der Yale University und ‘permanent Fellow” am Institut für Humanwissenschaften in Wien. Sein Werk wurde in 40 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet: unter anderem mit dem Literaturpreis der Amerikanischen Akademie der Künste und Briefe, mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken und vielen weiteren.
Quellen
- Statista (2021), Anteil der Ausgaben für Gesundheit am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ausgewählter Länder im Jahr 2018 [online] Verfügbar unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/283361/umfrage/anteil-der-gesundheitsausgaben-am-bruttoinlandsprodukt-ausgewaehlter-laender/ [abgerufen am 15.03.2021]
- OECD (2019), Health at a Glance 2019: OECD Indicators, OECD Publishing, Paris, [online] Verfügbar unter: https://www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/health-at-a-glance-2019_4dd50c09-en [abgerufen am 12.03.2021]
- Woolf SH, Schoomaker H. Life Expectancy and Mortality Rates in the United States, 1959-2017. JAMA. 2019;322(20):1996–2016. [online] Verfügbar unter https://jamanetwork.com/journals/jama/article-abstract/2756187 [abgerufen am 15.03.2021]
- Dwyer-Lindgren L, Bertozzi-Villa A, Stubbs RW, et al. Inequalities in Life Expectancy Among US Counties, 1980 to 2014: Temporal Trends and Key Drivers. JAMA Intern Med. 2017;177(7):1003–1011. [online] Verfügbar unter https://jamanetwork.com/journals/jamainternalmedicine/fullarticle/2626194 [abgerufen am 15.03.2021]
- Petersen EE, Davis NL, Goodman D, et al. Racial/Ethnic Disparities in Pregnancy-Related Deaths — United States, 2007–2016. MMWR Morb Mortal Wkly Rep 2019;68:762–765. [online] Verfügbar unter http://dx.doi.org/10.15585/mmwr.mm6835a3 [abgerufen am 20.03.2021]
- Irving G, Neves AL, Dambha-Miller H, et al International variations in primary care physician consultation time: a systematic review of 67 countries BMJ Open 2017;7:e017902. [online] Verfügbar unter https://bmjopen.bmj.com/content/7/10/e017902 [abgerufen am 20.03.2021]
- Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages (2015), Ausarbeitung – Grundgesetzlicher Anspruch auf gesundheitliche [online] Verfügbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/405508/4dd5bf6452b5b3b824d8de6efdad39dd/wd-3-089-15-pdf-data.pdf [abgerufen am 14.03.2021]
- C. Pestalozza, Freie Universität Berlin (2007), Das Recht auf Gesundheit – Verfassungsrechtliche Dimensionen [online] Verfügbar unter: https://www.jura.fu-berlin.de/fachbereich/einrichtungen/oeffentliches-recht/emeriti/pestalozzac/materialien/staatshaftung/Pestalozza_Bundesgesundheitsbl_2007.pdf [abgerufen am 14.03.2021]